Ein Beitrag von Gerrit Strijkstra
Tierärztliche Gemeinschaftspraxis Bersenbrück
Morgens um halb sieben ging das Telefon. Einer meiner Kollegen war dran mit der Frage: „ich muss gleich zu einem Fall mit vielen toten Sauen, was kann das denn sein?“. Landwirte, auch Tierarztkollegen, wollen gerne schnell einfache und eindeutigen Antworten. Vor allem schnell. Aber seine Frage konnte ich nicht beantworten. Erst sollte er eine adäquate Anamnese einholen und ich musste erst mal … frühstücken.
Anamnese
Der Betrieb ist ein Vermehrungsbetrieb mit 500 Sauen und Ferkelaufzucht. Ein kompletter Neubau, erst ein paar Jahre in Betrieb. Die Fütterung ist mit Trockenfutterautomaten realisiert. Der Betrieb hat einen eigenen Wasserbrunnen. Die Qualität des Wassers wurde regelmäßig kontrolliert, und es gab keine Beanstandungen. Die Stallluftemissionen werden durch einen Luftwäscher bearbeitet. In der Vergangenheit gab es Probleme mit der Futteraufnahme während der Säugezeit: Katabolismus und Hypogalaktie. Die Zahl der Umrauscher und Aborte war zu hoch und die Resultate auf dem Flatdeck waren nicht sehr gut, es gab zu viel Ausfall und im Wachstum zurückgebliebene Ferkel. Alles aber nicht unnormal für einen neu gestarteten Betrieb. Es gab ein paar tote Sauen mit einem blutenden Ulcus gastricus im Abferkelabteil, möglicherweise (mit)verschuldet durch Verfüttern von Natriumsalicylat.
In der vorangegangenen Nacht war ein Stromausfall. Als der Landwirt morgens in den dunklen Stall kam, war die Erdlecksicherung raus. Nach ein paar Mal probieren blieb die Sicherung drin und das Licht blieb an. Ungefähr eine Stunde später fingen diverse Sauen an, sich komisch zu verhalten und starben. Die Sauen zitterten, liefen unsicher herum und urinierten öfter. Sie hechelten, kamen zum Liegen und die Sauen mit diesen Symptomen starben. Auf dem Körper waren auffälligen blauen Flecken. Insgesamt starben 42 Sauen. Also: Tremor, Asynergie, Ataxie, Polyurie, Dyspnoe, Zyanose, Kollaps, Exitus, sehr ausgeprägten Livores mortis. Es waren praktisch keine toten Ferkel bei den säugenden Sauen. Auch auf dem Flatdeck waren keine erhöhten Ausfälle. Nach einige Stunden kam alles zur Ruhe, es kamen keine klinisch auffälligen Sauen dazu und es starben keine Sauen mehr. An den meisten Sauen war sowieso nichts zu sehen gewesen.
Klinische Differentialdiagnose
Als erstes wurde an einer Intoxikation gedacht, aber womit? Beim Ausfall der Ventilierung kann man an eine Vergiftung mit Schwefelwassersoff (H2S), Kohlendioxid (CO2) oder Kohlenmonoxid (CO, durch Gasstrahler) denken. Oder, wegen dem perakuten Verlauf, an Vergiftungen mit Organophosphate (OP(OR)(OR’)(OR’’)), Carbamate (R2N-COOH), Stickstoffoxiden (NO, NO2), Nitrit (-NO2⁻).
Es war wohl am besten einige Sauen zu sezieren. Zwei Stunden später waren vier tote Sauen in den Sektionssaal der Praxis.
Diagnose
Schon schnell kam, während der Sektion, der Verdacht auf eine Nitritintoxikation, dass es mit der Wasserversorgung zu tun haben konnte. Darum sind umgehend Proben aus allen vorhandenen Tränkewasserreservoire genommen worden. Diese Proben sind auf Nitrat und Nitrit untersucht. Es wurden Werte bis zum 3250 mg Nitrit pro Liter gefunden, das ist sehr sicher eine toxische Konzentration. Um verstehen zu können, wie derart hohe Nitrit-Konzentrationen ins Trinkwasser gelangen konnten, müssen einige Details der Wasserversorgung und das Luftwassersystem näher betrachtet werden.
Ein Luftwäscher sprüht Wasser in die den Stall verlassende Luft. Das im Luftwäscher versprühte Wasser nimmt Staub, Bakterien, Pilze und auch Gase, wie NH₃ oder CO₂, aus der Stallluftemission auf. Wasser, das unten im Filtersystem ankommt, wird in den sogenannten “Luftwäscherwasserbecken” aufgefangen. Dieses Wasser wird wieder benutzt. Nicht wenig dieses Wassers verdampft und muss ersetzt werden durch das Wasser aus dem Tränkewassersystem. Wenn Wasser nachgefüllt werden muss, öffnet sich ein Magnetventil. Siehe dazu Fig. 11: eine wundervolle schematische Zeichnung des Luftwassersystems.
Das frische Wasser wird im Luftwäscherwasserbecken unter der Wasseroberfläche eingeleitet (siehe Zirkel in der Zeichnung Fig. 11). Das Luftwäscherwasserbecken befindet sich über den Stallabteilen, der Druckwasserkessel für das Tränkewasser ist ebenerdig. Der Druck in den Wasserleitungen wird realisiert durch einen offenen Windkessel ohne Membrane (Fig. 11.: „Wasserkessel“). Bei Stromausfall kann kein Wasser mehr aus dem Brunnen in den Kessel gepumpt werden. Das Tränkwassersystem funktioniert so lange, bis das Wasser aus dem Windkessel-Wasserfass aufgebraucht ist. Es kommt dann nur Druckluft im Wasserleitungssystem an. Bis kein Druck mehr da ist.
Wie kam das Nitrit ins Trinkwasser?
Das Wasser aus dem Luftwäscherwasserbecken konnte in den Wasserkessel hebern, denn das Magnetventil war offen und das Rückschlagventil (siehe Fig. 11) war defekt. Als die Elektrizität wieder angeschaltet wurde, wurde Wasser aus dem Brunnen in den teilweise mit Wasser aus dem Luftwäscherwasserbecken gefüllten Wasserkessel gepumpt. Eine Mischung von einigen hundert Litern Wasser aus dem Luftwäscherwasserbecken mit frischem Brunnenwasser wurden so in dem Tränkewassersystem gedrückt.
Das Wasser im Luftwäscherwasserbecken ist stark verunreinigt. Chemische und bakterielle Umsetzungen produzieren große Mengen -NO₃⁻ (Nitrat) und NO₂⁻ (Nitrit). Die ersten Sauen, die morgens aufstanden, um zu trinken, nahmen so viel Nitrit auf, dass es für 42 Tieren tödlich war.
Warum Sterben Tiere an Nitrit?
Der Mechanismus einer Nitritintoxikation zur Erinnerung:
- Hämoglobine-Fe²⁺ kann oxygeniert und deoxygeniert werden
- Oxygenierung: Hb-Fe²⁺4H⁺ + 4O₂ → Hb-Fe²⁺4O₂ + 4 H⁺
- Nitrit oxidiert Hämoglobine-Fe²⁺ zu Methämoglobine-Fe³⁺. Methämoglobine-Fe³⁺ kann fast nicht oxygeniert werden, es kann zu einem Sauerstoffmangel in allen Geweben führen.
- Methämoglobine-Fe³⁺ ist bräunlich, daher das “schokoladebraune“ Blut.
- Normal im Tier vorhandene Methämoglobine-Reduktase kann Methämoglobine-Fe³⁺ reduzieren zu Hämoglobine-Fe²⁺, zwar langsam. Oxygenierung und Deoxygenierung sind dann wieder möglich.
Aufarbeitung
Die Makropathologie ergab im Prinzip genügend Hinweise für die Diagnose Nitritintoxikation. Hinweise für einen Erstickungstod und das schokoladebraune Blut sind dafür typisch.
Für die obligatorische juristische und versicherungstechnische Abwicklung dieses Falles sind exakte Messungen von Nitrit-Gehälter absolut notwendig.
Zum Glück sind die Proben früh genug genommen worden. Wenn das Tränkewassersystem mit Brunnenwasser aufgefüllt wird, wird die Nitritkonzentration im Wasserkessel immer mehr verdünnt, bis wenig oder nichts mehr zu finden ist. Damit ist nichts beweisbar.
Epilog
Ein Vertreter der Wasserinstallationsfirma kam nach ein paar Tagen und hat den Wassereinlauf im Luftwäscherwasserbecken über der Wasseroberfläche abgesägt. Ein harter Hinweis für die Versicherung. Es entstand ein bedeutender Schaden, nicht nur die 42 tote Sauen, es gab einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Betriebsergebnisse.